Angefangen hat es wohl mit meinem Lebensbuch.
Mir war klar, ich wollte Farbe in diesem Buch haben. Farbe von meinen Händen, nicht nur Farbe von Collagen aus AnderstMensch-Bildern.
Ja, das war mir klar.
Problem war, mir das zuzutrauen.
Problem war, mir das zuzugestehen.
Problem war ich.
Seit 30 Jahren wünsche ich mir aktiv, zu malen.
Aktiv wünschen…
Das heißt, ich kaufe mir immer mal wieder Farben und Skizzenbücher und laß es dann sein.
Aktiv wünschen, das heißt, ich setze mich mit dem Gedanken an das Tun innigst auseinander. Nicht nur ein schnell dahingesagtes „ach ja, das würde ich auch mal gerne tun“, nein.
Nein.
Das heißt, ich nähere mich an meinen Wunsch so nahe heran, daß ich nur noch den Finger ausstrecken muß, um ihn zu berühren, und merke dann, daß ich wieder nur meine Nase an der Schaufensterscheibe meines Traumes platt drücke. Daß ich lediglich durch die Türe rechts neben mir gehen könnte, um zu meinem Traum zu gelangen, auf diese Idee komme ich gar nicht.
Mein inniges Auseinandersetzen hat vielerlei Formen.
In den letzten Jahren kaufte ich mir einige Bücher über Art-Journaling, inspirierende Blicke in malerische Tagebücher fremder Menschen. Ich blätterte darin und träumte davon, eines Tages mein eigenes malerisches Tagebuch zu führen.
Ich schaue mir immer mal wieder Kreativ-Videos an, gibt es ja wie Sand am Meer. Und so male ich immerhin schon mal in meinem Kopf.
Seit einem Jahr folge ich im Netz einer Frau, deren Malerei mich so brüsk anspringt wie ein übermütiges Kind. Seit einem Jahr wünsche ich mir, daß sie den Mut findet, einen Online-Kurs anzubieten, damit ich den Mut finde, endlich wirklich zu malen.
So wünsche und erträume ich seit 30 Jahren erfolglos meine malerische Seele.
Ausrutscher gab es natürlich.
Mit 18 bekam ich einen Ölfarbenkasten geschenkt. Die Erinnerung daran ermöglicht es mir heute, mein Sehnen auf ungefähr 30 Jahre festzulegen.
Ich habe ein einziges Bild damit gemalt. Ich habe es noch immer. Ein recht düsteres Bild, wie mir eine liebe Freundin vor Kurzem sagte. Ich selbst habe es nie als düster empfunden, war es doch mein so wunderbarer Ausrutscher. Es war das Zeugnis dafür, daß e s möglich war. Daß ich irgendwann, aus welchem Grund auch immer, tatsächlich dazu in der Lage war, einen Pinsel in die Hand zu nehmen und ein Bild zu malen.
Ich.
Ich!
I c h …
Dann mit Mitte 30, als ich an einem Theaterstück arbeitete und meine Sehnsucht so weit ging, daß ich meine Schauspieler dazu aufforderte, ein visuelles Tagebuch über ihre jeweilige Personnage anzulegen. Sie sollten schreiben, kleben, malen, was auch immer ihnen in den Sinn kam und ihnen richtig erschien. Ich selbst schrieb und führte Regie und gönnte mir auch ein solches Tagebuch, aus meiner Position über das Stück und den Arbeitsprozess. Ich habe es noch immer. Es ging mir so leicht von der Hand, erfüllte mich mit soviel Freude. Gemalt habe ich nicht, aber Collagen geklebt, Buchstaben und Worte verziert und in Szene gesetzt.
Ja.
Ich hatte ja eine Aufgabe.
Die erfüllte ich. Und dann ließ ich es wieder sein.
Später wünschte ich mir, wieder solch eine Aufgabe zu haben, damit ich wieder einen Grund hatte, mich meiner kreativen Freude hinzugeben.
Es blieb beim Wünschen.
Bis zu meinem Lebensbuch.
Mitte Februar habe ich den Entschluss dazu gefasst, nachdem ich in das Lebensbuch einer alten Freundin spicken durfte. Es war plötzlich so nahe, so möglich. Nicht mehr ein Blättern in virtuellen Kunstwerken im Netz. Nicht mehr das Erschaudern vor Fähigkeiten anderer Menschen, die so unerreichbar schienen.
Es war das Buch einer Freundin, eines greifbaren Menschen, einer Frau, die dies einfach aus ihrer Freude und für sich tat. Und die das spontan mit mir teilte.
Einen Monat lang hat mein auserwähltes Buch auf mich gewartet. Nun, es lag bereits einige Jahre in meinem Schrank. Ich hatte es gekauft, für den Fall, daß ich eines Tages… Blablabla.
Am 25. März 2016 bin ich über meinen Schatten gesprungen.
Also zaghaft.
Ich malte nur einen kleinen Streifen mit meinen Wasserfarben. Ich klebte ein Bild einer fliegenden Frau darüber. Und schrieb daneben „frei“.
Das war’s.
Ich war so glücklich.
Am nächsten Tag kramte ich ein kleines Malbuch hervor. Ich habe ja unzählige. Auch dieses war ein Geschenk von vor 10 Jahren. Ich hatte damals wieder so innigst gewünscht, daß es einem AnderstMenschen auffiel.
Ja.
Gut, daß es diese AnderstMenschen um uns herum gibt.
Ich kleckste ein bißchen mit meinen Farben, immerhin hatte ich doch diesen wunderbaren Streifen hinbekommen, also mußte doch auch etwas anderes möglich sein…
Dann nahm ich einen Stift und fing an, in die Farbflächen hinein zu zeichnen. Ich erschrak. Fand es hässlich und klebte sofort ein ausgeschnittenes Bild darüber.
Aber gut.
Immerhin war die erste Seite geschafft.
Ist ja auch schwierig.
Dieses Büchlein hat ja weder Sinn noch Ziel.
Kein Projekt, nichts.
Kein Thema, nichts.
Es ist einfach da.
Rezeptakel meines Traumes, endlich zu malen.
Jetzt, zwei Wochen später, frage ich mich, wie ich mich überwunden habe.
Denn darum geht es.
Um meine Überwindung.
überwinden
sich winden
in Windungen
drüber hinaus
Wie sehr wir uns einengen, einfach so, aus welchem Grund auch immer.
Und uns dann winden.
Um das herum, was uns aus der Enge lösen könnte.
Die tiefste Sehnsucht.
Und doch weichen wir aus.
Weil wir uns schwer nur überwinden.
Dabei wartet meist nur pure Freude oder Erleichterung, wenn wir es dann tun.
Wenn wir es wagen.
Die Fesseln, die wir tragen, sind explizite Einladungen zum Gefangenschafts-Aufbruch und zur Freiheits-Erlangung.
Diesmal habe ich es nicht sein lassen.
Diesmal habe ich weiter gemacht.
Einfach so.
Das Glücksgefühl, das ich empfinde, ist grenzenlos.
Ich habe diesen Moment oft bei meinen Schülern beobachtet. Wenn Menschen sich endlich erlauben, loszusingen. Oftmals fliessen dann begleitende Tränen. So überschwemmig ist die Freude.
Geweint habe ich nicht.
Dafür überschwemme ich mein kleines Büchlein.
Und male.
Male.
Male…
Ich kann gar nicht mehr aufhören.
Das malerische Schweigen in mir ist gebrochen. Die Bilder purzeln nur so aus mir heraus. Ich selbst bin überrascht darüber.
Eigentlich logisch.
30 Jahre Zurückhaltung müssen ja irgendwo hin.
Ich denke an meinen Vater.
Wenn ich als Kind malte, dann kam er und korrigierte mich. Malte ich ein Haus frei Hand, dann mußte ich nochmals anfangen. Diesmal mit Lineal und Winkel. Häuser haben gerade Wände.
Egal, was ich machte, es war nie so, wie es sein sollte. Es war nicht realistisch, nicht sauber genug, nicht perfekt.
Er machte es dann an meiner Statt. So konnte ich sehen, wie es sein sollte. Wie es zu sein haben sollte.
Was das Malen anging, saß er mir im Nacken, mein Vater. Lange Jahre. Ich wußte es. Arbeitete daran. Befreite mein Denken.
Ja.
Das tat ich.
Gemalt habe ich trotzdem nicht.
War sein Tod mein Freischlag?
Vielleicht.
Ich weiss es nicht.
Und es ist auch nicht wichtig heute.
Wichtig ist nur, daß ich meine Fesseln gesprengt habe.
Ich.
I c h habe meine Fesseln gesprengt.
Das ist das Schöne an Fesseln. Auch wenn sie ein AnderstMensch an mich gelegt hat, es liegt in meiner alleinigen Macht, sie wieder abzulegen.
Es ist meine alleinige Entscheidung, frei zu sein.
Es ist meine freie Wahl.
Will ich gefangen sein?
Oder will ich frei sein?
Was hält mich davon zurück, einfach loszufliegen?
Ich bin so dankbar.
Ich bin mir so dankbar.
Klar, ich habe lange gezögert.
30 Jahre sind verdammt lange.
Aber es ist in Ordnung.
Manchmal bin ich langsam.
Manchmal nicht.
Die Zeit ist im Grunde nicht wichtig.
Wichtig ist nur, es zu tun.
Wagemut.
Das ist ein wunderschönes Wort.
Wagemut.
Sag es einmal laut.
Wagemut.
Es trägt Musik in sich.
Wagemut.
Erst stösst es dich an, dann kommt es zur Ruhe.
Wagemut…
Ganz gleich, was dich davon abhält, etwas zu tun, was dir Freude machen könnte.
Ganz gleich, was dich hemmt, deinen Traum zu verwirklichen.
Ganz gleich, was die AnderstMenschen um dich herum dazu sagen könnten.
Tu es einfach.
Der Lohn für deinen Wagemut ist unbeschreiblich groß.
(2016)