mein körper

Du.
Seit 45 Jahren begleitest du mich nun.
Du bist immer da.
Immer.
Auch wenn ich dich manchmal feige hab stehen lassen.
Trotzdem hieltest du Stellung.
Alleine.
Tapfer.
Ohne mich.
Entseelte Hülle.

Du warst geduldig mit mir.
Und bist es noch immer.

Du nimmst mich bei der Hand.
Leise. Manchmal laut.
Schickst mir Schmerz, wenn ich dich trotz deines Schreiens nicht hören will.
Schickst mir Tränen, wenn ich dein Empfinden von mir weise.
Doch du gibst nie auf.
Lässt mich nie im Stich.
Dessen kann ich mir sicher sein.

Ich habe gelernt, dich als Berater zu akzeptieren.
Ich musste es früh lernen.
Ich hatte keine Wahl, so glaubte ich jedenfalls. Und es ist gut, daß ich dies glaubte.
Ich hoffe, mein Leben wird lange genug sein, damit ich dich weiter ergründen kann.
Wirklich ergründen.
Bis ganz in deine Tiefe.

Als junger Mensch spürte ich dich nicht.
Ich bin aus dir geflohen.

Die Hände meines Vaters waren zu brutal.
Die Worte meiner Mutter zu kalt.
Wie sollte ich dich da achten lernen?
So liess ich dich stehen.
Meine entseelte Hülle.
Du hast mich gerufen.
Immer wieder.
Jahrelang.

Zwar konnte ich dich entseelen, jedoch nie sprachlos machen.
Dafür danke ich dir.
Und so begann vor 25 Jahren meine Odyssee.
Mein langer Weg der Verständnissuche.

Mein Forschen nach dir.
Mein Forschen in dir.
Meine Suche nach mir.

Ich habe dich noch lange nicht entschlüsselt.
Doch wir verstehen uns inzwischen.
Wir lachen miteinander.
Und wir weinen.
Wir versuchen aufeinander zu achten. Manchmal mehr. Manchmal weniger.
Doch lange halten wir es eh nicht ohne einander aus.

Ich schenke dir Zeiten des freien Ausdrucks.
Du darfst erschaffen.
Du geniesst es.
Und ich auch.
Ich freue mich mit dir. Denn ich erkenne wieder Neues in dir.
Durch dich.
Und an dir.
An mir.

Du bist älter geworden.
Reifer.
Ruhiger.
Ich wohl ebenso. Wenn ich es auch manchmal vergesse.
Du vergisst es nie.

Du erinnerst mich.
Hee, wir sind kein junges Mädel mehr…
Hee, musst dich schon etwas spezieller um mich kümmern.
Hee, sonst werd ich krumm und steif. Und dann? Was machste dann mit all deinem Übermut?

Jaa. Hast ja Recht.
Jaa. Ich will mich ja kümmern. Dich dehnen. Dich stärken. Dir deine Geschmeidigkeit wieder erlauben.
Jaa. Ich bin manchmal faul. Und flüchte. Schamlos und feige.
So bin ich.

Das Schöne ist, weit komme ich nie auf meiner Flucht.
Schon stehst du lachend an der nächsten Ecke.
Hab dich!
Und dann redest du Klartext mit mir.
Unerbittlich.

Ich weine leise.
Ich dehne dich und weine. Leise.
Du bist mir nicht böse, daß ich solange geflüchtet bin.
Doch ich bin traurig.

Ich habe dich studiert. Ja. Das habe ich.
Ich kenne dich.
Ich verstehe deine Sprache inzwischen.
Trotzdem habe ich mich deiner Geschmeidigkeit nicht genügend gewidmet.
Dabei brauchst du sie.
Sie ist lebenswichtig für dich.

Und ich weiss dies.
Und liess dich trotzdem im Stich. Wie früher.

Ich weine leise.
Du hast Schmerzen.
Sie sind meine Schuld.

Mir wird klar, daß ich dich zwar in meiner Welt geachtet habe, nicht aber in deiner.

Was bringt es dir, wenn ich dich verstehe?
Du musst nicht mehr so laut schreien, damit ich dich höre. Das stimmt.
Ich höre bereits dein Flüstern.
Nur was bringt es dir, wenn ich dir nicht die Zeit gebe, die du brauchst, um dir selbst wohl zu tun?

Ich dehne dich.
Und mit dir dehne ich mich.

Mein Geist wandert.
Ich atme in deinen Schmerz und bewundere deine Würde.
Du akzeptierst deinen Schmerz viel leichter als ich.
Er ist. Und er ist ok.

Du zeigst keinen Widerstand.
Nimmst ihn einfach an.
Der Schmerz ist Teil deiner selbst.

Ich dehne dich.
Und ich lerne.
Du lehrst mich. Wie all die Jahre schon.

45 Jahre bin ich alt.
45 Jahre sind wir ein Paar.
Wieviele Jahre liebe ich dich nun?
Ich weiss es nicht. Weit weniger als 45 jedenfalls.

Ich liebe dich und doch achte ich dich nicht genug.

Das ist es, was ich lernen musste.
Es genügt nicht, dich zu lieben.
Es genügt nicht, dich zu hören, wenn du zu mir sprichst.
Es genügt nicht, dich zu pflegen, wenn ich dich erschöpft habe.
Du brauchst meinen weisen liebevollen voraussehenden Blick.
Du brauchst Zeit.
Und meine Achtung vor dir.
Nicht nur meine Dankbarkeit.

Das hatte ich vergessen.
Die Achtung.
Ich habe sie mit der Dankbarkeit verwechselt.

Ich dehne dich.
Und weine.

Leise.
Vor Glück.

(2017)