Haut.
Geboren wurde ich mit einer feinen, zarten, fast durchsichtigen.
Wie wir alle.
Sie lag wie eine luftige Blase um mich, gerade stabil genug, um meine Seele in ihrer Weite zusammen zu halten. Damit ich nicht auslaufe. Ich sollte doch erst einmal leben. Auslaufen und leben gleichzeitig ist schwierig.
Für das Leben, das mich erwartete, war meine zarte, feine Haut zu dünn. Zu durchlässig. Zu zerbrechlich. Schlau, wie ich bin, wusste ich mir schon früh zu helfen.
Schnell trug ich einen Panzer.
Fühlen wollte ich nicht.
Denn was ich hätte fühlen können, war so viel zu viel, so unendlich viel und so schmerzhaft, dass ich womöglich auf der Stelle gestorben wäre.
Haut.
Auf die man draufhaut.
In die man reinhaut.
Durch die man abhaut.
Panzer sind nie ohne Grund da.
So war ich lange Jahre stolzer Panzerträger.
Dann begann meine Auseinandersetzung.
Die Panzerwand trennte mich.
Zwischen mir und der Welt war Eisen.
Zwischen mir und den Menschen war Stahl.
Zwischen mir und dem Leben war Kälte.
Einfach ablegen?
Dummes Zeug.
Panzerhaut klebt. Sie krallt. Und sie hütet mich.
Ich habe Ritze hineingesprengt.
Damit ich etwas frische Luft atmen konnte.
Und durch die Rillen lugte ich hinaus in die Welt.
Viele Jahre sind vergangen.
Jahrzehnte.
Inzwischen habe ich den Panzer aufgeweicht.
Die viel zu feste und kalte Haut neu durchblutet.
Ich habe mich an die Schichten heran gemacht.
Ich bin wie eine Zwiebel.
Viele Schichten.
Viele Häute.
Viele Tränen beim Häuten.
Häute.
Heute.
Ich weiss nicht, wieviele Häute mir noch bleiben.
Erst jetzt im Frühjahr habe ich wieder eine verloren.
Ich tat meine Arbeit.
Und meine Arbeit tat ihre Arbeit.
Sie wirkt nicht nur auf andere Menschen, sie wirkt auch auf mich.
In einem Kurs wurde ich geweitet.
Gedehnt.
Meine Haut wurde gestreckt.
Meine Seele ebenso.
Wo bist du, Mimi?
Wer bist du, Mimi?
Was fühlst du, Mimi?
Wie weit gehst du, Mimi?
Ich lebte meine Streckung. Und meine Haut fing an zu spannen.
Im nächsten Kurs ging ich tempeln.
Mit meinen Frauen.
Im Wald auf einer Lichtung.
Dort ist es passiert, glaube ich.
Die Haut ist abgefallen.
Oder hat sie sich aufgelöst?
Wurde sie zersprengt?
Keine Ahnung, ist auch nicht wichtig.
Was zählt ist, sie ist weg seither.
Ich bin wieder ein Stück mehr nackend.
Du musst dich schützen, sagte man mir.
Ich muss gar nichts.
Panzer baue ich keine mehr. Die hatte ich lange genug.
Ich lerne leben.
Mit jeder Haut, die von mir fällt, muss ich wieder von vorne beginnen und leben lernen.
Klar kann ich meine Erfahrung nutzen, zum Glück.
Trotzdem gebührt jeder neuen Haut die Ehre der ersten Auseinandersetzung.
Neugeboren.
Wie die empfindliche Haut unter der Blutkruste.
Wundenhaut.
Oder die rosafarbene nach einer Verbrennung.
Feuerhaut.
Sie ist immer sensibel und zaghaft und frisch.
Sie braucht die behütete Achtsamkeit des Erstgebrauchs.
Häute.
Heute.
Wieviele Heute ich noch haben werde, auch das weiss ich nicht.
Jedes Heute braucht die behütete Achtsamkeit des Erstgebrauchs.
Denn morgen ist es schon vorbei.
Gestorben.
Abgelöst von einem neuen Heute.
Neue Häute sind dünn.
Besonders je tiefer drinnen sie liegen.
Beim Tempeln kann ich meine Seele weiten. Sie in den Raum schicken. Weit um mich.
Ich kann meine Haut so dünn werden lassen, dass sie mich an meine allererste Haut erinnert.
Ich kann auslaufen.
Auslaufen und leben gleichzeitig ist schwierig.
Das Leben, das mich erwartet, heute, braucht die Dünnheit meiner Haut.
Ich selbst muss noch lernen, gut mit dieser neuen Haut zu leben.
Bis zur nächsten Häutung.
Auch diese wird kommen, ich weiss es.
Irgendwann komme ich wieder an bei der ersten Haut, der zarten, feinen, die nur dazu dient, meine Seele zusammen zu halten.
Und dann…
Haut.
Geboren wurde ich mit einer feinen, zarten, fast durchsichtigen.
Wie wir alle.
(2017)