Ich bin ein Mensch voller Widerstände und Angst.
Ja.
Ruhig nochmals lesen.
Ich bin ein Mensch voller Widerstände und Angst.
Es ist wichtig, dass du das aufnimmst und hörst, denn sonst kannst du jeden weiteren Gedanken von mir nicht verstehen.
Menschen denken, ich sei besonders frei.
Und wahrscheinlich bin ich das auch.
Aber ich bin es nur aus einem Grund: ich weiss um meine Widerstände und meine Angst.
Ich erkenne sie an.
Es ist immer und immer und immer die Anerkennung.
Nur was wir anerkennen, können wir annehmen und wandeln.
Nur was wir anerkennen, wird uns befreien.
Nur was wir anerkennen, wird in uns zur Ruhe kommen.
Ja, ich bin ein Mensch voller Widerstände und Angst.
Früher habe ich bei diesem Gedanken aufgehört.
Früher habe ich mich in meiner Angst ertränkt.
Oder mich gelähmt.
Oder bin geflüchtet.
Heute weiss ich, dass es nach oder hinter oder neben der Angst noch etwas Anderes gibt.
Nämlich das Leben.
Ich habe mit den Jahren aber gelernt, dass die Angst nicht schweigen will.
Es ist einfach so.
Sie hat eine laute Stimme und ist sehr geschwätzig.
Sie plappert pausenlos.
Ihre Worte sind wie Ziegelsteine. Blablabla und hopplahopp steht da eine Mauer.
Diese Mauer ist dann der Widerstand.
Und dieses Hindernis trennt mich von meinem Leben.
Früher versuchte ich, über die Mauer zu klettern.
Oder sie zu ignorieren. Das war besonders dämlich. Sowas führt unweigerlich zu Zusammenstössen.
Angst habe ich immer noch.
Und oftmals sind es dieselben Ängste wie früher.
Das Einzige, was sich in mir geändert hat, ist meine Haltung.
Heute sehe ich meine Angst.
Ich spreche sie an.
„Ja, es ist so! Ich bin so!“
Ich weiss es, ich sage es und dadurch wird es ruhiger in mir.
Zum Beispiel bin ich ein Mensch mit Reisefieber.
Ich bin ein Höhlenmensch und das Hinausgehen in die Welt kann schwierig sein für mich.
Das klingt unwahrscheinlich, gell? Ich habe mich für ein mobiles Leben in einem Van entschieden. Ausgerechnet.
Mmmmh, es ist aber so. Mein Mann kann davon ein Lied singen.
Ich bin so. Und ich weiss es. Und so kann ich es heute aussprechen und leben.
Ich habe wieder Reisefieber. Am Samstag fahre ich los und ich freue mich sehr darauf. Und trotzdem ist sie da, meine Angst.
Ich habe keine Angst vor dem Unbekannten. Keine Angst vor der Strasse. Keine Angst vor dem Abenteuer. Nein.
Ich habe Angst vor dem Weggehen. Meine Angst betrifft das Davor. Ich weiss aus Erfahrung, dass alles gut ist, sobald die Schwelle überwunden ist. Vielleicht nennt man das Schwellenangst?
Vor über zehn Jahren konnte ich wegen dieser Angst nicht einmal ein Café betreten. Ich schaffte es nicht. Oder aber es kostete mich unendlich viel Überwindung. Es war ein Kraftakt, dem ich nur zu gerne aus dem Weg ging. Oder aber ich zwang mich. Das war auch nicht besser.
Auch bin ich ein Mensch mit tiefen existentiellen Ängsten.
Erscheint auch das unvorstellbar, wenn man weiss, dass ich all meinen Besitz losgelassen habe, um mich mit dem materiellen Nichts zu konfrontieren?
Es ist aber so.
Ich kann in fürchterbare Tiefen abstürzen aus Existenzangst.
Und es ist in Ordnung.
Dann stürze ich eben.
Ich weiss heute, dass ich nicht mehr sterben muss, wenn ich in meinen Ängsten stecke.
Früher dachte ich das.
Früher gab ich meinen Ängsten Allmacht.
Das mache ich heute nicht mehr.
Ich gebe ihnen aber etwas, was ich früher nicht tat, nämlich Anerkennung.
Allmacht und Anerkennung.
Es ist eine simple Frage von Status.
Warum sage ich immer wieder, ich habe mich vom Status befreit?
Damit meine ich nicht nur das allgemeine Denken in Statussymbolen. Damit meine ich Höhenunterschiede. Status ist ein Höhenunterschied. Mehr nicht.
Stelle ich einen Menschen über oder auch unter mich, dann erschaffe ich einen Höhenunterschied. Das nennt man Status.
Im Theater kann man damit wunderbar arbeiten. Angenommen zwei Menschen stehen auf der Bühne. Einer ist König, der andere Diener. Der Status ist offensichtlich. Was aber, wenn nun der König in einer Improvisation den Status bricht? Was, wenn er beispielsweise dem Diener die Türe aufhält? Was geschieht dann im Spiel?
Im Theater ist Statusarbeit genial. Sie öffnet ungeahnte Möglichkeiten.
Im Leben ist Status hinderlich. Denn er beschränkt. Und zwar immer. Status ist eine Mauer, wie die Ziegelwand des Widerstands.
Wer sich hinter Status verstecken muss, hat Angst.
Angst, nicht genug zu sein. Also setzt der Mensch seinen Status hoch. Er wird zum König.
Oder Angst vor der eigenen Grösse. Also senkt der Mensch seinen Status und wird zum Diener.
Halte ich Zwiegespräch mit meiner Angst, dann hole ich sie von ihrem allmächtigen Thron herunter. Oder, falls ich eher der Typ bin, der über die Angst hinwegsieht, hole ich sie zum Zwiegespräch aus dem Keller.
Wichtig ist das Zwiegespräch.
In dem Augenblick, in dem ich mich auf dieselbe Höhe stelle wie meine Angst und sie anerkenne, in genau dem Augenblick kann sie ihren wahren Platz einnehmen und ich kann das tun, wozu ich gemacht wurde:
leben.
Frei leben.
Ja, ich bin ein Mensch voller Angst und Widerstände.
Doch ich spreche mit meiner Angst und so kann sie langsam das Plappern lassen.
Ich sage ihr, sie ist ok, genauso ok wie ich selbst.
Ich nehme sie mit, wenn ich den Van einräume. Sie schaut mir zu und ich sage ihr, wie schön es sein wird auf unserer Reise. Sie darf mitkommen, ohne sie würde ich nicht fahren wollen. Und sie wird ihren Platz haben, keine Sorge, und so muss sie mir nicht mehr den Kopf vollplappern.
Und so nehme ich sie bei der Hand und gemeinsam schauen wir, wie die Ziegelsteine sich auflösen. Einer nach dem anderen. Bis der Weg wieder frei ist.
Mein Weg.
Mit meiner Angst an meiner Seite.
Nur an meiner Seite und nicht mehr zwischen meinen Füssen.
Das ändert alles.
Denn so kann ich ungehindert gehen.
Wer neben mir hergeht ist nicht so wichtig.
Wichtig ist, dass ich gehe.
(2018)